Interview mit Christian Erdmann
Literatur-Feder Magazin
Ausgabe 5, Juni 2007
Der Autor Christian Erdmann und sein Werk
"Aljoscha der Idiot"
"Aljoscha der Idiot" erschien bereits 2005,
bevor es nun neu, in der besonderen Buchreihe Edition BoD, aufgelegt wurde.
"Ich schwöre: Wer dies liest, der bekommt einen
glücklichen Ausdruck im Gesicht...", so der Gründer des Eichborn-Verlags,
nun Herausgeber der BoD Edition und einer der renommiertesten Branchenkenner in
der Literaturszene, Vito von Eichborn.
Erdmann gilt als außergewöhnlicher Autor, der das
Talent besitzt, den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann zu
ziehen.
Daher war es uns eine ganz besondere Ehre, dass wir
ihn in dieser Ausgabe für ein exklusives Interview gewinnen konnten.
Literatur-Feder: Herr Erdmann, auf Ihrer Homepage stellen Sie beinahe ausschließlich
Ihr Buch in den Vordergrund. Über Ihre Person als Autor erfährt man so gut wie
nichts. Möchten Sie unseren Lesern etwas von sich preisgeben?
Christian Erdmann: Oh, gut. Ich lebe in Hamburg und versuche wie jeder andere, das
tägliche Chaos irgendwie zu ordnen. Ich habe Philosophie studiert, aber keine
Karriere daraus gemacht. Unter meinem Bett liegen Schiffsladungen von Papier,
Entwürfe für das, was einmal meine Dissertation werden sollte, eine
"Philosophie des Horrors". Aber das hat den Rahmen gesprengt, und ich
bräuchte einen Deutschen, der mir das systematisiert. Ich habe einen ziemlich
bizarren Job, um mich über Wasser zu halten. Und wenn ich meine Feder in mein
Herzblut hätte tauchen können, um den Roman zu schreiben, hätte ich es getan.
Literatur-Feder: Ihr Roman "Aljoscha der Idiot" ist Ihre erste
Roman-Veröffentlichung. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen und gab es
dafür einen bestimmten Auslöser?
Christian Erdmann: Wann ich mit dem Schreiben begonnen habe? Als Kind! Ich konnte
schreiben, bevor ich in die Schule ging, und ich habe Lexika vollgekritzelt
mit... notwendigen Ergänzungen. Ich hatte bloß die Angewohnheit, zwischen den
einzelnen Worten Striche zu setzen... Gedankenstriche. Wie Kupplungen zwischen
den Waggons eines Zuges. Vielleicht hatte ich irgendwie schon immer das Gefühl,
die einzelnen Worte sind nicht verbunden genug.
Die ersten ernsthaften Schreibversuche waren Gedichte.
Es gab auch mal einen Gedichtband, den ich zusammen mit einer Freundin gemacht
habe. Wir haben beim Drucker die Seiten selbst geschnitten und geleimt. Das
Bändchen hieß "Vorwitz und Verstrickung". Ein paar Hundert Exemplare
im Eigenverlag, das war gnadenloser, furchtloser, furchtbarer Idealismus.
Der Anlaß für diesen Roman war, etwas Wunderbares
festzuhalten. Ich sage nicht, daß es eine wahre Geschichte ist, aber der Anlaß
war, etwas Wunderbares festzuhalten.
Literatur-Feder: Sie haben sich bei Ihrem Erstlingswerk für eine Veröffentlichung bei
BoD entschieden. Was waren die Gründe?
Christian Erdmann: Nun, ich habe das Manuskript in unregelmäßigen Abständen an einige der
großen Verlage geschickt. Nicht viele, nur eine Handvoll: Berlin-Verlag,
Matthes & Seitz, Suhrkamp, Reclam Leipzig, Hanser, zuletzt Rogner &
Bernhard, wo mir eine Praktikantin den Papierstapel zurückgab. Vermutlich hat's
da keiner gelesen, aber es sah trotzdem so aus, als hätten sie den Fußboden
damit gewischt. Man hat als Autor nicht viel Geld, aber eine Menge
Schmierpapier.
Die Absagen, die man auf meiner Homepage lesen kann,
sind authentisch. Der Roman wurde abgelehnt als zu anspruchsvoll und "auf
dem Markt nicht durchsetzbar". Also, wenn man das Manuskript nicht in
einem heiligen Ritual verbrennen will, was kann man tun? BoD war einfach der
Weg, den Roman so herauszubringen, wie ich ihn wollte. Es hat mich natürlich
auch gereizt, daß man die Covergestaltung selbst übernehmen und so eine Art Gesamtkunstwerk
schaffen kann. Ich wollte unbedingt diesen Masereel-Holzschnitt! Und ich
verstand BoD dann als eine Art Independent-Bewegung, die es erlaubt, gewisse
Mechanismen des Betriebs zu unterlaufen. In der Musik geschieht ja derzeit
Ähnliches, es gibt aufregende Bewegungen außerhalb der herkömmlichen Strukturen
der Industrie. Im Internet hat ja gerade die kreative Schnitzeljagd für Furore
gesorgt, die Trent Reznor für die letzte Nine Inch Nails-Platte veranstaltet
hat. Ganze Alben werden nur noch im Internet zugänglich gemacht, die
Einstürzenden Neubauten haben dieses System etabliert, Musik mit direktem
Support durch Fans zu produzieren, jede Myspace-Seite bietet Hörproben,
Musiker-Blogs geben bislang ungekannte Einblicke in das künstlerische Schaffen,
kurz, die graben den Schacht von Babel da.
Literatur-Feder: Vito von Eichborn ist seit März 2006 neuer Herausgeber der Edition
BoD, einer Buchreihe, in der außergewöhnliche BoD-Titel präsentiert werden. Ihr
Buch wurde in diese besondere Buchreihe aufgenommen. Nun gilt Herr Eichborn als
einer der innovativsten Buchmacher in der deutschsprachigen Literaturlandschaft
mit einem feinen Gespür für hoffnungsvolle Autoren. Was bedeutet diese Aufnahme
für Sie?
Christian Erdmann: Das war ein echter Schock. Und natürlich eine große Ehre.
Literatur-Feder: Konnten Sie bereits im Vorfeld damit rechnen, in diese Buchreihe
aufgenommen zu werden?
Christian Erdmann: Nein, das kam aus heiterem Himmel. Ich hatte nur die Vorstellung, daß
das Buch schon seinen Leser finden wird, aber abgesehen von der Website bestand
meine Promotion darin, im Forum eines Nachrichtenmagazins zu schreiben, wobei
ich das Buch aber nie offensiv bewarb. Man streitet da über Politik oder
diskutiert Filme. Nach einer Weile kamen die ersten Emails von anderen
Teilnehmern dort, die sich fragten, was ist das denn für einer, und über mein
Userprofil die Website gefunden hatten. Die fragten dann nach dem Roman und wie
man ihn bekommen kann. Die ersten Reaktionen auf das Buch waren sehr bewegend.
Wenn dir ein Leser sagt, der Roman hätte sein Leben verändert - das geht schon
unter die Haut. Daß mir dann plötzlich Vito von Eichborn ein Vorwort schreiben
würde, in dem er erklärt, das sei literarisch das Beste, was er seit langem
gelesen habe - nein, hätte ich nicht gedacht. Wenn das Buch sich durch Kanäle
bewegt, die du nicht mehr kennst, wenn du nicht mehr weißt, wo die
Flüsterpropaganda flüstert, dann merkst du, es ist auf dem Weg. Aber dem, der
da nächtelang vor sich hin schrieb ohne Vorstellung davon, wo das hinführen
soll, verschlägt das erstmal den Atem.
Literatur-Feder: Erscheint Ihr nächstes Buch ebenfalls als BoD?
Christian Erdmann: Erst einmal will es geschrieben sein. Dann sehen wir weiter.
Literatur-Feder: Wie viele Jahre Vorarbeit haben Sie für Ihren Roman investiert?
Christian Erdmann: Vorarbeit im eigentlichen Sinne gab es nicht. Es gab nur Arbeit. Ich habe
an dem Roman geschrieben, bis er fertig war, und dann habe ich an einer neuen
Fassung geschrieben - vielleicht drei- oder viermal. Allerdings habe ich nicht
kontinuierlich daran gearbeitet. Eine erste Fassung war Ende der 90er fertig,
aber sie ist nicht mehr zu vergleichen mit dem jetzigen Roman. Das, was jetzt
"Aljoscha der Idiot" ist, entstand zwischen 2002 und 2004. Das stand
dann für mich schon unter dem Vorzeichen BoD. Und das hieß: keine
Beschränkungen im Hinblick auf das, was "auf dem Markt durchsetzbar"
ist. Die Überarbeitung der Erstfassung bestand darin, alles viel kompatibler zu
machen. Und dann habe ich den ganzen Prozeß langsam wieder umgedreht. Entweder
sagt man die Dinge so, wie man sie sagen will, oder man läßt es.
Ich glaube ja an die ganz alten Geschichten. Wie
Rimbaud mit "Eine Zeit in der Hölle" zum Drucker gegangen ist, den
bezahlt hat, und dann ist die Auflage in Brüssel verrottet. Das ist groß!
Irgendwann stand ich dann in Paris vor dem Haus, in dem Lautréamont verhungert
ist. Ich sagte mir, was der kann, kann ich auch. Und gab mein letztes Hemd für
BoD.
Literatur-Feder: Vor nicht allzu langer Zeit galt der Aufenthalt des Dichters im
sogenannten Elfenbeinturm als Symbol für eine verfehlte Einstellung, die
lediglich als "Flucht aus der Wirklichkeit" angesehen wurde. Im
letzten Jahrzehnt hat sich an der Einstellung offensichtlich etwas geändert.
Man bedenke das Anwachsen der phantastischen Literatur auf dem Markt.
Welche Aufgabe hat ein Autor heute Ihrer Meinung nach?
Christian Erdmann: Jeder Autor muß selbst entscheiden, wo sein Weg ist. Ich kann nur für
mich selbst sprechen. Und nur für dieses Buch. Und dann ging es vielleicht
darum: sagen, was bisher noch nicht gesagt wurde. Oder etwas so sagen, wie es
bisher noch nicht gesagt wurde. Sich dem Unsagbaren annähern. Sie kennen sicher
den Zustand, wenn zwischen Traum und Wachen das Gehirn auf Hochtouren läuft.
Vielleicht sind wir dann die besten Literaten.
Die Flucht aus der Wirklichkeit gibt es ja eigentlich
gar nicht. Jeder angeblich Flüchtende entdeckt da, wo er ist, eine andere
Facette der Wirklichkeit. Wenn wir alle mit den alltäglichen Einschätzungen
zufrieden wären, bräuchte es keine Literatur. Insofern bedeutet Literatur
immer, neben der Realität zu liegen. Auch "Realismus" ist nur ein
Stil, nur vielleicht die schwächste Form des Danebenliegens. Zu dem, was uns
als Antwort vorgelegt wird, keine neue Fragen finden, das ist der eigentliche
Elfenbeinturm. Und die subversive Kraft des Danebenliegens ist es, neue
Wirklichkeiten zu erschließen.
Für mich selbst funktioniert Schreiben wie eine Fahrt
in der Geisterbahn. Ich möchte nicht schon vorher genau wissen, was am Ende
herauskommt. Man fährt zwar auf einer Schiene, aber man weiß nicht, was man
unterwegs trifft. Andere nicht langweilen, aber auch sich selbst nicht
langweilen, wie Billy Wilder sagte.
Zum Roman
Literatur-Feder: Der Roman findet in der Gegenwart statt, in einer Gegenwart, würde man
besser sagen. Aber Errungenschaften der Gegenwart spielen, wenn man vom Walkman
einmal absieht, im Roman so gut wie keine Rolle. Gibt es Gründe?
Christian Erdmann: Oh, Aljoscha benutzt auch ein Telefon! Und der ganze Ablauf beginnt ja
damit, daß Aljoscha einen Horrorfilm von 1942 sieht. Also gibt es auch
Fernsehen... es gibt schon Errungenschaften der Moderne, aber es ist mehr wie
bei Cocteau, wenn der Tod durchs Autoradio spricht. Die eine Gegenwart, in der
das alles spielt, ist unbegrenzt und sozusagen panoramisch geöffnet, für
Botschaften, die aus anderen Zeitebenen zu kommen scheinen, für Mythologie. Mir
ging es auch darum, wenigstens anzudeuten, daß jede Situation ein unendlich
komplexes Geflecht von Bezügen ist, praktisch unauslotbar. Um die Situation in
80 Perspektiven, gewissermaßen. Es spielt sich etwas ab, für das die Moderne
eigentlich keinen Platz hat - ein magisches Ritual. Und alles, was Aljoscha
begegnet, scheint einen Bezug zu diesem Ritual zu haben, es gibt überall Verbindungen
und den totalen Zusammenhang der Ereignisse in einer scheinbar magischen
Ordnung. Das, was Breton mal "die unwahrscheinliche Mitwirkung"
nannte. Aljoscha merkt, daß er aus der normalen Welt herausfällt, und die Dinge
der normalen Welt haben keine Bedeutung mehr... sofern sie keine Bedeutung in
Bezug auf das haben, was ihn mit dieser rätselhaften Frau verbindet, seiner
Obsession. Aber gut, ein Rezensent schrieb, Aljoscha wirke, als hätte ihn ein
böser Geist aus der Pariser Belle Epoque herausgerissen. Er hat wahrscheinlich
ein paar Anlagen, die ihn in der Gegenwart ein bißchen deplatzieren. Aber
vielleicht prädestiniert ihn das auch für die Erfahrung, die er macht.
Literatur-Feder: Im Zusammenhang mit der Bibliotheca Medicea Laurenziana in Florenz,
die von den Protagonisten aufgesucht wird, sprechen Sie von "Schöner
Wohnen für den Weltgeist".
Hat der Weltgeist Ihrer Meinung nach in den modernen
Lesesälen mit Buchbestellterminal etc. nichts zu suchen, bzw. findet er dort
keine angemessene Behausung?
Christian Erdmann: Doch, nur hat man manchmal den Eindruck, er schwirrt da etwas
aufgescheucht herum. Das Ganze ist ein bißchen ironisch gemeint. Das ist
vielleicht eine der Passagen, wo der Leser sich zu fragen beginnt: meint der
das alles ernst? Dann kommt er wahrscheinlich darauf, daß manches ironisch
gemeint ist. Das stimmt, aber auf einer dritten Ebene ist hinter der Ironie
alles wieder todernst gemeint.
Diese Reihen von Büchern, die man über Jahre hinweg
zusammengetragen hat, und jedes einzelne präsentiert seine Aura, das ist doch
einfach ein wunderbarer Anblick. Vor einer Weile las ich ein schönes Plädoyer
für die Macht der Bücher, "Der Club Dumas" von Arturo Pérez-Reverte,
die Vorlage für diesen Polanski-Film mit Johnny Depp, "Die neun
Pforten". Diese leidenschaftlichen Bücherjäger, diese einzigartigen alten
Ausgaben mit einzigartigen Geheimnissen, hinter denen alle her sind, mittendrin
die aufregendsten Frauen, nicht minder geheimnisvoll, ich meine, da möchte man doch
eine der Romanfiguren sein.
Bob Dylan hat mal gesagt, das Internet sei ihm
unheimlich, und er fürchte immer, daß da irgendwann eine Hand durch den Monitor
kommt und nach ihm schnappt. Gut, der Mann denkt in Metaphern. Der schnelle
Zugriff auf Informationen im web, der Austausch, die Vernetzung, all das ist
ein unbezahlbarer Vorteil. Aber es fehlt die Tiefendimension, die ein Buch hat.
Wenn du ein Buch von Baudelaire in der Hand hast, ist Baudelaire dein
Zeitgenosse. Dinge wie Wikipedia machen zwar klar, daß wir alle der Weltgeist
sind, aber andererseits glaube ich an den Genius Loci. Die Atmosphäre eines
Ortes und die eigene Stimmung, da gibt es eine Wechselwirkung. Sakralbauten
haben die Funktion, dich einzustimmen, dir irgendeine Art von Empfänglichkeit
zu schenken. Ich mag es, wenn man eine Bibliothek betreten kann wie einen
Sakralbau.
Literatur-Feder: An welche Zielgruppe richten Sie sich? Lässt sie sich benennen?
Christian Erdmann: Naja, an jeden, der das Gefühl hat, hinter dem perfekt aufgeführten
Theaterstück der Normalität toben noch ganz andere Mächte. Alle, die an
irgendeine Art von Bestimmung und an Liebe als höchste Form der Magie glauben,
sollten diesen Roman lesen. Jeder, der mal gedacht hat: Liebe ist anders,
unvorstellbar anders. Alle, die daran glauben, daß die Reise in die Mitte der
Wirklichkeit einen Auslöser auf zwei langen Beinen hat. Und jeder, der sich
über das freut, was man mit Sprache anstellen kann. Es gibt doch diesen Song,
"Man Out Of Time". Dies hier ist ein "Book Out Of Time". Es
kennt den Zeitgeist nur vom Hörensagen. Manche empfinden den Sprachduktus als
altmodisch, benutzen dann aber im nächsten Satz das Wort
"postmodern". Was kann ich sagen?
Literatur-Feder: Im Zusammenhang mit Äußerungen zu Wittgenstein fällt der Satz:
"Positivismus ist das, was man seiner Oma erzählen kann". Wie sehen
Sie den heutigen oder kommenden Weg des Denkens?
Christian Erdmann: Als ich Arbeiten für mein Philosophiestudium schrieb, haben die
Professoren mir immer gesagt: sehr schön, aber passen Sie auf, daß Sie nicht zu
poetisch werden. Und dann habe ich einen Roman geschrieben, der einem Lektor
"zu philosophisch" war. Meine Idee ist, Poesie war immer schon eine Art
Philosophie, aber Philosophie muß noch mehr als eine Art von Poesie verstanden
werden. Denn alles wir tun, in welcher Disziplin auch immer, das ist, daß wir
uns Geschichten erzählen. Es gibt keine Wahrheit, die man verabsolutieren
könnte. Perspektivismus ist heilsamer als Dogmatismus. Ich behaupte in meinem
Roman ein paar Wahrheiten über diese Welt, aber letztlich ist es nur meine
Sicht, meine Erfahrung. Wenn das neue Räume öffnet für jemanden, wunderbar. Wir
können uns nur annähern, aber das Streben an sich ist erotisch.
Literatur-Feder: Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, dass die Fülle der zur Sprache
gebrachten Kenntnisse gelegentlich die Handlung zu überwuchern scheint?
Christian Erdmann: Das wird ja oft ironisch gebrochen, beispielsweise in den ganzen
bizarren Majakowski-Zitaten, die ja völlig unsinnig wirken. Auch wenn sie im
Aljoscha-Zusammenhang dann wieder Sinn ergeben, werfen sie auf Aljoscha sicher
nicht das Licht eines von seiner eigenen Bildung Ergriffenen. Es gibt auch Passagen,
in denen zwei Leute in einem Raum sitzen und ziemlich behämmert versuchen, den
ganzen Lauf der Dinge zu verstehen. Andererseits ist die Fülle dessen, was da auf Aljoscha
einströmt, aktiver Teil der Handlung selbst. Wenn da die Professoren in ihren Vorlesungen
Botschaften mitteilen, die Aljoscha in seinen eigenen persönlichen
Bedeutungszusammenhang fügt, dann ist das so, als hätten die Dinge hinter den
Dingen eine eigene Stimme. Man kann sie halt nur nicht in den Credits
aufführen, sozusagen.
Literatur-Feder: Eigentlich erübrigt sich die Frage nach Vorbildern, Einflüssen. Sie
werden im Roman in der Regel genannt. Gibt es trotzdem Schwerpunkte? Welche
Rolle spielt Kierkegaards "Tagebuch des Verführers" für einen
gewissen Handlungsteil?
Christian Erdmann: Kierkegaard war kein direkter Einfluß. Ich sehe, was Sie meinen, es
gibt vielleicht gewisse Parallelen, aber Aljoscha ist kein distanzierter
Ästhetiker. Natürlich ist die schöne Unbekannte Projektionsfläche seiner
Phantasien. Aber es ist ja nicht so, daß Aljoscha dabei zugleich systematisch
auf der Flucht vor der Liebe wäre, daß er bei alldem nur einen letztlich
hedonistischen Reiz auskostet.
Die Parallele liegt sicher darin: Aljoscha erlebt, wie
ihm ein Ideal erscheint, und er spürt ihm nach, er wird zum akribischen
Beobachter, jedes Detail aus dem Leben dieser Frau wird sein Fetisch, jeder
ihrer Bewegungen folgt ein Sturzbach von Bedeutungen. Der Unterschied:
Beobachtung ja, aber Kontrolle, Machtausübung? Nein. Planmäßiges Verführen?
Nein. Die Frau wird nicht zum Opfer seiner diabolischen Inszenierung. Im
Gegenteil lernt Aljoscha die ganze Zeit, daß es immer etwas gibt, das ihm
voraus ist. Er läuft ständig hinterher, das ist sein Grundgefühl. Da ist etwas,
das mit äußerster Raffinesse vorgeht, aber dieses Etwas ist nicht er selbst. Es
ist etwas anderes, das da steuert, nicht er selbst.
Beim Verführer Kierkegaards gibt es diese latent
sadistische Komponente, die Machtausübung über ein Objekt. Für Aljoscha ist es
eher masochistischer Suspense, in einer Verführung, die, wenn schon,
wechselseitig ist.
Auch verläßt Aljoscha eigentlich nie die moralische
Ebene. Für den Verführer ist Zweisamkeit ja keine Perspektive. Für Aljoscha
beginnt aber genau da das Dilemma. Er ist voller Skrupel, eigentlich ein durch
und durch ethischer Charakter. Er fühlt sich schon schuldig, bevor er sich
schuldig gemacht hat. Erst als er wirklich begreift, daß die Realität
tatsächlich mit seinem Phantasma identisch ist, stellt sich ihm auch die Frage,
ob Schuld überhaupt ein sinnvolles Wort ist.
Es gab eigentlich keine direkten literarischen
Vorbilder, obwohl es Passagen gibt, die ich meine Thomas-Mann-Passage nenne
oder meine Francois-Villon-Passage. Einflüsse dagegen gibt es unendlich viele,
natürlich. Man kann aus allem etwas Brauchbares ziehen. Aus einem alten
Chemiebuch habe ich einiges über Metamorphose gelernt. Musik war natürlich auch
ein Einfluß. Ich habe mal gelesen, Musik kann das Gehirn in einen Zustand
versetzen, in dem es neue "patterns of speech" entwickelt. Das habe
ich zuweilen ganz banal instrumentalisiert. Die Suche nach Flauberts "mot
juste"... statt wie Flaubert in den Teppich zu beißen, habe ich mir
Kopfhörer aufgesetzt. Und manchmal hat mich die Atmosphäre eines Stücks wie "Boy
Child" von Scott Walker oder "Frozen Warnings" von Nico genau
dahin geführt, wo das Wort oder das Bild war.
Literatur-Feder: Könnten Sie uns etwas über die Gründe zur Wahl des Titels sagen?
Christian Erdmann: Zuerst hieß der Roman "Die Katzenmenschenfürstin". Freunde,
die das Manuskript gelesen hatten, sagten mir aber, das klinge zu sehr nach
Fantasy und zu historisierend. Daß es dann "Aljoscha der Idiot"
wurde... Aljoscha hat das Gefühl, das Leben hat eine innere Struktur, die aufregend
und bedeutsam ist, ein geheimes Muster der Existenz. Nur, er kapiert es lange
nicht. Er weiß nicht, ob er zu äußerster Klarsicht oder zu äußerster
Unzurechnungsfähigkeit vordringt. Und das, was er versteht, versteht er eben
etwas anders. Das ist, wovon im Buch gesagt wird, es ist das Russischste am
Russen - alles etwas anders verstehen. Alles etwas anders tun. Er geht eben
nicht auf diese Frau zu und fragt sie: "Wollen wir nicht mal einen Kaffee
zusammen trinken?" Das hätte alles zerstört.
"Idiot" ist auch kein klassisches
Schimpfwort für mich. Nicht seit Dostojewski. Es ist nicht negativ gemeint, es
bezeichnet nur einen, der eben ein bißchen ein komischer Heiliger ist.
Literatur-Feder: Die Handlung erstreckt sich über neun Monate. Warum haben Sie sich für
die Romanform entschieden, wenn sich die relative Kürze der Handlung auch in
einer Erzählung hätte wiedergeben lassen?
Christian Erdmann: Es geht um die Vorstellung von Mustern, die vielleicht einerseits
Produkt unserer unbewußten Sehnsüchte sind, die uns dorthin bringen, wo etwas
in uns schon immer hin wollte, und die uns andererseits irgendwie von außerhalb
unserer selbst am Wegesrand Zeichen geben. Wir verändern die Muster, die Muster
verändern unsere Realität. Um all das darzustellen, hätte die komprimierte Form
der Erzählung nicht ausgereicht. Die Situationen, die dem Protagonisten mit
Bedeutung aufgeladen scheinen - sie werden beschrieben, aber es war auch der
Versuch, das in die Sprache selbst eindringen zu lassen. Auch die Worte und
Sätze, die Aljoschas Realität beschreiben, sind mit Bedeutung aufgeladen. Die
Geschichte, die Handlung selbst, ist nicht übermäßig ausgefallen. Wie sie
beschrieben wird, das ist ungewöhnlich. Die Ebenen in Aljoschas Wahrnehmung
haben eine Entsprechung in der Sprache. Bis zu dem Punkt, an dem die
Vermischung von Realität und Phantasie, von Traumzeit und Echtzeit, von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch den vermeintlich auktorialen Erzähler
völlig sabotiert. Aljoscha hat keinen Zweifel am kausalen Geordnetsein der
Welt... aber er spürt einer genuin anderen Kausalität nach als der bekannten.
All das, all diese Sequenzen und Koinzidenzen, ist in die Sprache eingewoben,
diese ganze Textur. Manche Worte am Ende erklären manche Worte am Anfang. Das
entspricht Aljoschas Gefühl, die Gründe für seine Gegenwart kommen aus der
Zukunft. Eine Erzählung hätte all das nicht erlaubt. Konventionelle
Erzählweisen werden immer wieder aufgebrochen, um darzustellen, wie Aljoschas
Realität aufgebrochen wird, und wie sein Blick darauf sozusagen explodiert. Als
würde eine Polaroidkamera in einen Haufen Polaroids explodieren, die sich
gegenseitig anstarren.
Literatur-Feder: Den Protagonisten fehlt die Dimension der biografischen Vergangenheit
nahezu völlig. Welches Konzept verfolgen Sie damit?
Christian Erdmann: Naja, es gibt schon Rückblenden, die helfen, den Punkt zu erklären, an
dem Aljoscha und Leda jetzt stehen. Aber es stimmt, auch diese Rückblenden
können von dem Punkt aus gesehen werden, an dem die Gegenwart für Aljoscha sich
wie ein Universum ausdehnt. Die biografische Vergangenheit der
Katzenmenschenfrau kennt Aljoscha ja lange nicht. Darum ist sie ja die
Katzenmenschenfrau.
Literatur-Feder: "Wer auch immer dieses (das wiederholte Lesen) auf sich nimmt,
der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht". Dies die Ankündigung
des Herausgebers Vito von Eichborn. Hätten Sie eine Vorstellung davon, wie es
zu diesem glücklichen Ausdruck kommen könnte?
Christian Erdmann: Ein ratloser, befremdeter Ausdruck ist sicher auch denkbar... ein
"Hä?" aus tiefstem Herzen. Ein Leser schrieb mir, bei vielen Büchern
suche man die Nadel im Heuhaufen, während mein Buch ein Nadelhaufen sei. Manche
sagen, der Einstieg in den Roman fällt schwer, und ich sage dann, wenn Sie die
ersten 50 Seiten schaffen, kann Sie danach nichts mehr schrecken. Manche sagten
mir: und dann kam diese Sogwirkung. Für mich ist das schwer zu beurteilen. Es
scheint, entweder legt man das Buch schnell wieder weg, oder man läßt sich auf
eine vielleicht schwierige, aber tiefgehende Erfahrung ein. Der glückliche
Ausdruck, der kommt, wenn man Lust hat, sich von einem Buch ständig überraschen
zu lassen. Wenn man sich zunächst fragt, wie kommt denn das jetzt da hin, dann
aber alles plötzlich Sinn ergibt. Auch, daß Tarotkarten eine Konferenz
abhalten, die aus dem Ruder läuft. Ein Theaterstück, mittendrin. Es ist
überhaupt viel drin. Ich möchte an dieser Stelle Lotte Lenya zitieren: "Da
wird was geboten für sein Geld!"
Literatur-Feder: Wir wünschen dem "komplexen Gespinst aus Gedanken und
Gefühlen" (Zitat: Vito von Eichborn) und seinem Autor weiterhin viel
Erfolg!
Christian Erdmann: Ich bedanke mich ganz herzlich und wünsche Ihrem Magazin
dasselbe!
Das Interview führte Marlies Eifert zusammen mit
Markus Fifka.
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